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Guter alter Apfelbaum

In jedem Frühling besuche ich meine Eltern und auch in jedem Herbst. Es ist Frühling. Ich mache mich bereit für die Fahrt nach Hause, aufs Land. Mama und Papa erwarten mich. Dieser Besuch ist einer der wenigen Höhepunkte in ihrem Jahresablauf. Sie leben bescheiden aber zufrieden in ihrem kleinen Bauernhaus. Eine Neuerung hat es doch gegeben im letzten Jahr: Papa hat einen Fernseher gekauft, er interessiert sich für die Ereignisse in der großen, weiten Welt. Nun schaut er täglich die Nachrichten an, genießt es, diese Bilder echt vor Augen zu haben. Er mag die alten Filme, Sendungen mit politischem Hintergrund und Sendungen aus der Geographie. Er weiß, wo die Erdteile und Länder liegen, kennt ihre wichtigsten Städte. Das alles bringt Gesprächsstoff für die beiden und in der Mama hat er auch stets eine geduldige Zuhörerin.

Vom Haus aus führt ein Trampelpfad zur alten Obstwiese, es gibt ihn immer noch,  zwar nicht mehr so ausgetreten. Jeder Besuch bei den Eltern ist auch mit einem Besuch in der Obstwiese verbunden, beim alten Apfelbaum gleich vorne links. Wie viele Jahre mag er dort schon stehen, zusammen mit den Birnen- und Zwetschgenbäumen.

Ein staunendes „Oh“ strömt aus meiner Brust. Er ist über und über mit weißen und zartrosa Blüten bedeckt, das gibt es in der Stadt nicht zu sehen. Ich fühle, wie sehr ich dieses Erlebnis der erwachenden  Natur vermisse. Die Erinnerungen eilen auf mich zu. Und wie immer – zuerst die zarten, weißen Angorahasen. Hier durfte ich mit ihnen unbeschwert in der Wiese herumhüpfen, mit ihnen kuscheln, wenn sie mal für einen Moment still hielten.

Dann die ersten Jahre in der einklassigen Dorfschule. In meiner Klasse gab es nur vier Mädchen, Buben waren es fünf. Obwohl von den Buben belächelt, lernten wir Mädchen Flöte spielen. Manchmal saßen wir vor unserem Haus auf einer groben, selbst gezimmerten Bretterbank und quiekten schrille Töne in die Luft. Im Spätsommer schlichen wir dann häufig in die Obstwiese um die ersten Äpfel zu stibitzen. Auch wenn sie noch grün waren und ziemlich sauer schmeckten.  

Ich liebe diesen alten, knorrigen Kerl,  seine Rinde ist nun brüchig und mit Moos überwuchert.  Geduldig lässt er den Wind mit seinen Blättern spielen, gibt Vögeln und Käferchen ein Zuhause.

Mama sagt, die Äpfel sind nicht mehr so wohl geformt und saftig wie früher, oft sind sie wurmstichig. Man müsste die Obstbäume heutzutage mit einem Mittel spritzen, das das Ungeziefer fernhält. Aber Papas Körper ist zu müde. Auch den jährlichen Schnitt schafft er nicht mehr. Und so wachsen die Bäume einfach gemütlich vor sich hin. Ihre Früchte sind launisch wie die Natur.

Und ich. Was ist aus mir geworden, aus meinen Träumen unterm Apfelbaum? Meinen ersten Kuss habe ich hier bekommen, sein Zauber ist längst verflogen. In meiner Erinnerung lächle ich über das naive Mädchen, das ich damals war. Viel zu schnell ist dieser Frühling aus meinem Leben entschwunden. Es wurde Sommer, der Herbst ist schon bedenklich nahe. Dann gibt es nur noch den Winter. So wie Mama und Papa möchte ich ihn erleben dürfen.  

                                                                           Traudl Schmitt

 

 

 

 

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